Kommentar Grün-Sein muss sich rechnen - Klimaschutz darf nicht zur Deindustrialisierung führen Die Ökopartei steuert auf ein Rekordergebnis zu - trotz der holprigen Performance von Annalena Baerbock. Doch wie teuer wird ihre Regierungsbeteiligung?

Thomas Sigmund

08.08.2021 - 18:38 Uhr

Die Grünen liegen bei den Umfragen nach wie vor auf Rekordkurs. Bei einer Bundestagswahl hat die Partei erst einmal ein zweistelliges Ergebnis erreicht. Selbst wenn man berücksichtigt, dass die Grünen in Umfragen eher über- als unterschätzt werden, gibt es trotzdem ein "Projekt 18". Wie einst die FDP unter Guido Westerwelle stellen sie sich der Kanzlerkandidatur. Doch das hat ihnen bisher nicht gutgetan.

Annalena Baerbock und Robert Habeck
Die Grünen genießen noch immer gute Umfragewerte. Nun gilt es, die Zustimmung auf hohem Niveau zu halten.
(Foto: dpa)

Das sagt auch ihr Co-Vorsitzender Robert Habeck, der fast täglich zu verstehen gibt, wie sehr er es bereut, Annalena Baerbock den Vortritt gelassen zu haben. Einmal lässt er das Wort "Frauenkarte" fallen, um zu testen, wie das wirkt.

Dann steht er im brandenburgischen Wald neben der Kandidatin, und jeder würde gern wissen, was er gerade denkt. Inszenierungsprofi Habeck hat in solchen Situationen seine Gesichtszüge nicht im Griff. Die Langeweile steht ihm ins Gesicht geschrieben.

Tatsächlich ist Baerbocks Kandidatur bislang denkbar schlecht gelaufen. Sie liefert sich mit ihrem Konkurrenten Armin Laschet von der Union ein Rennen um die schlechtesten persönlichen Umfragewerte. Selbst im eigentlich Grünen-freundlichen "ZDF-Politbarometer" liegt sie auf dem letzten Platz unter den drei Kandidaten.

Ihre Glaubwürdigkeit hat schwer gelitten: Nebeneinkünfte, die Plagiate und ein frisierter Lebenslauf - das alles sind Nebensächlichkeiten. Doch in der Summe ergibt sich ein schlechtes Bild. Zuletzt auch noch das Saardebakel.

Nun geht darum, das Niveau der Zustimmung zu halten

Die immer noch guten Umfrageergebnisse der Partei kommen aber nicht von ungefähr. Die Grünen leiten ihre Kompetenz aus dem Klimaschutz ab. Neben der Pandemie treibt das Thema die Deutschen derzeit am meisten um.

Zwar haben sich mittlerweile alle Parteien dem Kampf gegen den Klimawandel verschrieben, aber die Grünen haben diesbezüglich das Copyright. Zumal die Große Koalition hier nicht überzeugt. Die Wassermassen in der Eifel oder an der Ahr verunsichern die Bürger zudem.

Der Wahlkampf der Grünen ist nun darauf ausgerichtet, ihre guten Umfrageergebnisse endlich einmal bei einer Bundestagswahl in ein gutes Wahlergebnis umzumünzen. Es geht nicht mehr um Zuwächse, sondern darum, das Niveau der Zustimmung zu halten. Ihre potenzielle Wählerschaft ist in großen Teilen strukturkonservativ.

Die grüne Wählerschaft arbeitet oftmals im öffentlichen Dienst, und der eine oder andere hat schon mal ein Haus geerbt. Sie meint, sich die Kosten der Klimapolitik leisten zu können. Im Berliner Ortsteil Prenzlauer Berg, einer Grünen-Hochburg, fliegt so mancher gern mal zur Buddha-Kur nach Indien, um dann als Kompensation die Grünen bei der Wahl anzukreuzen.

Keiner spricht den Grünen die Ernsthaftigkeit ihres Anliegens ab. Aber diese grüne Blase lebt vornehmlich in den guten Vierteln der Metropolen und Universitätsstädte. Ein Außendienstmitarbeiter, der im Jahr Zigtausende Kilometer mit dem Auto abreißt, von einem Eigenheim träumt und mit seiner Familie im Urlaub nach Mallorca möchte, wird von den Grünen nicht angesprochen. Das geplante Energiegeld von 75 Euro jährlich ist für ihn eine Tankfüllung.

Das Ganze folgt dem Prinzip linke und rechte Tasche. Auf der einen Seite wird alles teurer durch die CO2-Kosten, auf der anderen Seite soll man sein Geld zurückbekommen. Das macht die Wähler misstrauisch. Sie sehen auch, dass die Grünen zwei neue Ministerien schaffen wollen.

Wähler wollen nicht noch mehr Verbote und staatliche Gängelung

Das ist im Verhältnis zu den Milliarden, die beim Klimaschutz umgewälzt werden sollen, vernachlässigbar. Aber auch hier setzen die Grünen für den Großteil der Wählerschaft ein falsches Signal. Die Wähler wollen nicht noch mehr Verbote, staatliche Gängelung und mehr Bürokratie.

Zwischen der Wirtschaft und den Grünen war es auch schon mal einfacher. Das Schreckgespenst der 80er-Jahre sind die Grünen für die Unternehmer nicht mehr. Aber je konkreter ihre Pläne werden, desto mehr runzeln Mittelständler, Handwerker und Vorstandschefs die Stirn. Das jüngst vorgestellte Klimaschutzprogramm stieß auf wenig Gegenliebe bei Industrie und Familienunternehmern. Die Wirtschaft ist bereit zum Wandel.

Elektromobilität und Wasserstoff, das alles hat schon die Strategieabteilungen der Unternehmen verlassen und wird umgesetzt. Aber solche Prozesse dauern Jahre, und das abgedroschene Wort von der Planungssicherheit ist für die Industrie von fundamentaler Bedeutung.

Der von Baerbock vorgeschlagene Pakt für Klimaschutz darf eben nicht zur Deindustrialisierung führen, sondern muss der Wirtschaft neue Chancen eröffnen. Wirtschaft ist immer Rechnen. Am Ende muss Geld verdient werden.


Quelle: Handelsblatt vom 08.08.2021